Letter from Tokyo 6 – Tokyo 2003
Von Matthias T. J. Grimme
Japan im Frühsommer: Regenzeit mit 25 bis 30 Grad
Celsius, Luftfeuchtigkeit um die 90 Prozent, gelegentliche Regenschauer.
Das erste Mal nicht alleine unterwegs: Jemina und Capricious begleiten
mich, werden die Modelle für die vom Doc vorbereiteten Performance-Veranstaltungen
sein.
„Ryu-Jin“ ist wieder in Tokyo. Ryu-Jin bezieht sich auf
meinen Online-Namen, unter dem ich auch in Tokyo bekannt bin nach meinen
mehrmaligen Aufenthalten, Ryu-Jin heißt Drachenmann (oder richtiger
Drachenmensch bzw. Drachenkönig). Der Terminplan sieht gleich am
ersten Wochenende den Besuch der berühmten, monatlich stattfindenden
Department-H-Party vor. Bis zu 500 Besucher drängen sich in einem
ehemaligen Kino mit Empore in Shibuya, einem der belebtesten Viertel
Tokyos.
Vorher drei kleine Aufwärmshows im Bondage-Studio des Docs, der
als Bondage-Künstler den Namen Osada Steve verliehen bekommen hat.
Auf der überfüllten Department-H sind wir der dritte Show-Akt
und warten in einer der drei Garderoben, die für die „Künstler“
vorgesehen sind. Neben zwei Tanzshows und ein paar kleineren Spielen
sind wir der einzige „Bondage-Act“.
Ein bisschen aufgeregt betreten wir zu dritt die große Bühne:
Wir haben nur 20 Minuten Zeit, ein Bondage-Gestell gibt es nicht, also
ist es nichts mit Suspension-Spielen. Aber wir haben vor, die Japaner
und Ausländer (von denen mehr als in den letzten Jahren da sind)
zu beeindrucken. Wir bieten etwas Bondage, etwas Kerzenwachs, eine Klammer-Session
– und als Höhepunkt das Spiel mit den Sicherheitsnadeln.
Auf der Bühne steche ich die Nadeln durch die Brüste der beiden
Frauen und befestige einen elastischen Faden in einem Muster zwischen
den vier Sicherheitsnadeln. Ich trete zurück, denn was jetzt kommt,
spielen die beiden miteinander: Das Fadengeflecht dehnt sich, während
beide sich zurücklehnen, sich gegenseitig vorziehen, nachgeben,
die Kräfte fließen lassen. Und dann ist die Show auch schon
vorbei.
Später verteilen wir mit ein paar Bekannten von Steve und der Japanerin,
die im letzten Jahr mein Performance-Modell war, Flyer für die
beiden größeren Veranstaltungen, auf denen wir auftreten
werden: „East meets West“ und „Bondage Show“
im Loft Plus One. Eigentlich sollte unser Auftritt auf der Department-H
nur Reklamezwecken dienen, aber der Veranstalterin gefiel unser Auftritt
so gut, dass sie uns noch nachträglich ein Honorar zahlte.
Es ist doch ganz anders, wenn ich mit Modellen arbeite, die ich sehr
gut kenne, deren Reaktionen ich einschätzen kann, die sich mir
genau mitteilen können, weil ich ihre Mimik verstehe. In den Jahren
zuvor mit den japanischen Modellen hat es zwar viel Spaß gemacht,
aber deren Englischkenntnisse waren meist schlecht oder nicht vorhanden,
und zu mehr als einem „Daijobe?“ (Alles okay?) reicht es
bei meinem Japanisch auch nicht, obwohl ich mir Jahr für Jahr vornehme,
etwas mehr zu lernen.
Außer den beiden großen angekündigten Shows machen
wir in zwei Clubs, Randa Mais Bondage Bar und Osada Steves Bondage-Seminar
noch kleinere Spiele. An einem Abend kommen Chiba Sensei und ein anderer
japanischer Bondage-Master zu Besuch, um das, was wir zeigen, kritisch
zu beäugen. Danach entspinnt sich ein interessantes Gespräch
über den Unterschied meiner europäischen Modelle zu den japanischen
Modellen. Die Japanerinnen kommen auf die Bühne, und wenn die Show
anfängt, schließen sie die Augen und gehen in ihren eigenen
„Film“, während der Bondage-Künstler sein Spiel
mit ihnen macht. Meine Modelle und ich entwickeln ein gemeinsames Spiel
– auf die Rückmeldungen durch Blicke und Bewegungen kann
ich ganz anders reagieren als auf die hingebungsvolle Passivität
der Japanerinnen. Wobei ich zugeben muss, dass beides seinen Reiz hat.
Die für meine Augen übertriebenen Reaktionen der japanischen
Modelle auf das Spiel mit Seil, Kerze, Klammer und meist sehr weicher
Riemenpeitsche sind natürlich Teil einer Tradition, die von den
Frauen erwartet, eine gute Show zu liefern, während der Mann eher
kühl bleibt und im Hintergrund seine Utensilien nutzt. Über
die Sonnenbrillen manches Bondage-Meisters haben wir gewitzelt, bis
uns klar wurde, dass es in einer Gesellschaft, in der es ausgeprägte
sexuelle Obsessionen gibt, es aber gegen die guten Sitten verstößt,
diese auch zuzugeben, wichtig ist, ein bisschen Anonymität zu bewahren.
Nur: Wo bleibt die Anonymität der Modelle? Immerhin kenne ich Japaner,
die ihren normalen Job verloren haben, als herauskam, dass sie als Bondage-Performer
auf der Bühne stehen oder als Mistress nebenher arbeiten.
Auch die beiden angekündigten Bondage-Veranstaltungen (die erste
war in einem der größten japanischen Bondage-Clubs, dem Tokyo
Jail, die zweite mitten im größten Vergnügungsviertel
Tokyos, dem Kabuki-cho) bei Eintrittspreisen von 40 bzw. 65 Euro mit
jeweils etwa 50 zahlenden Gästen waren entgegen Osada Steves Erwartungen
sehr gut besucht. Man wollte sich scheinbar die Gajin Bondage-Leute
nicht entgehen lassen. Neben uns gab es natürlich auch immer eine
Show von Osada Steve mit seiner japanischen Freundin Bambi und im Jail
noch zwei erotische Performances durch Angestellte des Clubs. Bei der
zweiten Veranstaltung wurden wir zwischendurch interviewt. Der Veranstalter
hatte vorher Kugelschreiber und Papier an die Zuschauerinnen und Zuschauer
verteilt, worauf diese dann ihre Fragen formulieren konnten. Meine englischen
Antworten wurden dann ins Japanische übersetzt. Von „Was
ist der Unterschied zwischen deutschem und japanischem SM?“ bis
zu „Wann kann man euch nochmals sehen?“ spannte sich der
Fragenkatalog.
Natürlich haben wir nicht nur „in Bondage“ gemacht,
sondern uns auch Tokyo angesehen – waren auf Märkten, in
Tempeln und Parks und haben die 100-Yen-Läden (das Gegenstück
zu unseren 99-Cent-Läden) unsicher gemacht. Nebenbei Sushi satt
gegessen und die bequeme Option der überall auf den Straßen
stehenden Getränke-Automaten genutzt.
Also alles in allem eine wirklich gelungene Reise, aus der wir mit jeder
Menge guter Erinnerungen und Mitbringseln zurückgekommen sind.
Wer übrigens Lust hat, selbst in Tokyo mal den Bondage-Leuten auf
die Finger zu schauen, der kann sich gerne bei mir melden – ich
kann dann Kontakt vermitteln, denn alleine ohne Japanisch-Kenntnisse
findet man die kleinen Clubs und Seminare nicht.