Letter from Tokyo 8
Yukimura Haruki - Die Zeiten ändern sich
von Dr. D. Vice
"Das war früher alles nicht so einfach," berichtet in
einer schwachen Stunde der sonst eher reservierte Seilkünstler
Akechi Denki, 65 Jahre. "In meiner Studentenzeit habe ich an den
Wochenenden immer wieder Mädchen ausgeführt. Erst zum Knutschen
ins Kino oder in die Sternwarte, weil's da so schön dunkel ist,
und dann ab ins Love Hotel. Aber sobald ich meine Seile hervorgeholt
habe, sind alle prompt ausgezickt. Von hundert Frauen haben es im Schnitt
nur vier mit sich machen lassen."
Heute sind die Verhältnisse wohl eher umgekehrt. Auch wenn nicht
jede Frau gleich eine Maso-Braut ist, ausprobieren wollen es trotzdem
die meisten. Erfahren wollen sie, wie weh es tut, wenn die Peitsche
auf die Pobacken prasselt oder heißes Kerzenwachs auf ihre nackten
Brüste tropft. Kennenlernen möchten sie das Gefühl, an
Seilen schwerelos von der Decke zu schweben. Einmal ausgeliefert sein
und alles vergessen können, sich hingeben, Opfer sein. So sind
schon manche, die nicht bereits seit ihrer Kindheit von fesselnden Nächten
träumen, auf den Geschmack gekommen.
"Als kleines Mädchen habe ich mit meiner Großmutter
oft Prinzessin gespielt," erzählt Usagi, 24 Jahre jung und
freischaffende Journalistin. "Mein schönstes Kleid habe ich
angehabt, dann sind immer Räuber gekommen, die waren böse
zu mir. An einen Pfosten haben sie mich gefesselt. Und meine Oma hat
mich dann befreit, und war ganz zärtlich zu mir." Seit diesen
harmlosen Kindertagen sucht Usagi einen Mann, der mit ihr böse
Spielchen treibt, sie ihrer Freiheit beraubt, ihr Schmerzen zufügt,
sie erniedrigt und unterwirft. Jahrelang hat sie auf einschlägige
Inserate geantwortet, ist mit wildfremden Männern mitgegangen,
immer in der Hoffnung, einen Master zu finden, der sie genußvoll
leiden läßt und den sie deshalb lieben kann.
"Ich habe als Kind immer von einer Riesenkrake geträumt, die
mich mit ihren Armen vollständig umringt und mir das Gefühl
von Geborgenheit gibt," erklärt Kyoko, eine 28-jährige
Assistenzprofessorin ihre Lust auf Fesselungen. "Sobald ein Mann
mich fesselt, schwebe ich wie auf Wolken. Ich verlasse meinen Körper,
meine Seele ist frei, ich kann hinabschauen und mich selbst da unten
sehen, wie ich wehrlos, beschützt und glücklich bin."
Was vor nicht allzu langer Zeit noch als "schlechte" Gedanken
verdrängt wurde, darüber wird heute frei geredet. Dazu beigetragen
hat wohl die Verbreitung von SM-Unterhaltungsmaterial, die mit einigen
kühnen Verlegern und Einzelkämpfern in den 60er Jahren begann,
und bald darauf Einzug ins japanische Kino erhielt, in Form erotischer
Romanverfilmungen mit SM-Thematik. Wohl jeder Japaner über 30 kennt
noch die vollbusige Naomi Tani. War sie es doch, die von allen Frauen
am genußvollsten leiden konnte - ein Umstand, der sie von 1976
bis tief in die 80er Jahre zum unumstrittenen SM-Star machte. Mit der
Erfindung des Videorecorders schwappte dann engültig die SM-Welle
in die japanischen Wohnzimmer. Allen voran mit Arts Video Productions
und dem heute legendären Nureki Chimou, der sich damals noch Mr.
Iida nannte.
"Das waren noch Zeiten," schwärmt Honda-san, ein Mann
in hoher Stellung bei einem der japanischen Elektronikriesen. Seine
Frau will nichts von seinem "Hobby" wissen, so daß er
mehrmals wöchentlich allein auf die Pirsch geht, sich Performances
reinzieht oder ab und zu die Dienste einer schnuckeligen, devoten Zofe
in Anspruch nimmt. "Damals hatten die Videos alle eine Story,"
fährt Honda-san fort. "Da wußte man, weshalb die Frauen
gefesselt wurden.
Egal ob auf frischer Tat ertappte Ladendiebin oder Studentin beim Nachsitzen,
es gab immer einen Grund, die Seile ein Machtwort sprechen zu lassen.
Die Frauen haben da noch gestrampelt, sich gewehrt, gebettelt und geweint,
wie es eben im richtigen Leben ist. Heute knipst du auf die Play-Taste
und die Action ist bereits voll in Gang, ohne daß du weißt
warum. Aber das Schlimmste von allem ist die Eskalation in alle denkbaren
Extremitäten. Früher kam neben demkunstvollen Bondage allenfalls
mal die Kerze oder die Peitsche zum Einsatz."
In der Tat wird das Angebot an reinen Bondage-Videos, egal ob mit oder
ohne Handlung, immer dünner. Der Kommerz hat die Oberhand gewonnen,
befriedigen soll die moderne Produktion des Tages nicht nur die Bondage-Fans,
sondern alle anderen gleich mit. Wer Blut sehen will, bekommt sein Blut,
Einläufe gehören zum Standardrepertoire, Kavierspiele sind
gang und gäbe, ohne Natursekt läuft garnichts, gepeitscht
wird bis die Haut platzt, den Frauen wird der Schädel rasiert und
der Mund zugenäht - und damit auch der Letzte noch auf seine Kosten
kommt, werden sämtliche Löcher aufgetrieben, gestopft und
auf alle erdenklichen Weisen geschändet.
Da sind Rope Artists wie Yukimura Haruki wie die Oase in der Wüste.
Bei seinen Videos wird noch Wert auf sauberes japanisches Bondage gelegt.
Für Pornofreaks, die nach immer gewaltigeren Exzessen suchen, ist
das viel zu lahm. Nicht aber für Honda-san, der sich an einem frühen
Sonntagnachmittag auf einem Live-Video-Shoot eingefunden hat - seine
Frau wähnt ihn auf dem Golfplatz. Während seine Schläger
in der Gepäckaufbewahrung auf ihn warten, verfolgt er mit etwa
zwanzig weiteren Enthusiasten jeden Schritt des Meisters. Für knapp
600 Mark pro Person dürfen die Anwesenden ihre eigenen Kameras
mitbringen. Der Schauplatz ist ein Mietstudio im Stadtteil Shinjuku.
Zwei Super-Halogenlampen werfen ihr Licht auf vier Tatami-Matten, wo
der Meister seine Künste zeigt. Das junge Modell, das sich fromm
wie ein Lamm fesseln läßt, schämt sich artig, denn das
gehört dazu. Insgesamt drei Szenarien werden durchgespielt: das
Schulmädchen, das sexy Girl in Reizwäsche und als heiratsfähige
Tochter im Sommerkimono. Nach knapp vier Stunden fällt die letzte
Klappe. Honda-san tröpfeln die Schweißperlen von der Stirn.
Zwölf Filme hat er verknipst, und sein Camcorder ist die ganze
Zeit mitgelaufen. "War wirklich gut heute," sagt er. "Das
ist das richtige Kinbaku," fügt er noch hinzu, bevor er sich
auf den Weg macht zum Bahnhof, um seine Golfschläger abzuholen.
Seine Frau wartet nämlich mit dem Essen auf ihn. Und danach wird
er sich erschöpft hinlegen.
Dr. D. Vice