Letter from Tokyo 14 - Osada Steve
Vom Waldmeister zum Shibarikönig
Die Sterne funkeln über den Dächern der Stadt,
als ich meine Aufwartung im Studio SIX mache, der Wallstätte der
internationalen Fessel-Schickimicki.
Meine SM-Macker-Kluft habe ich übergeworfen, eine mehr als übliche
Ration Gummis Marke London liegen diskret in der Zigarettenschachtel
versteckt, und jede Menge Hallo-Wach-Drinks habe ich eingepfiffen. Letzteres,
um die eigenwilligen Gedankengänge des Seilmeisters Osada Steve,
der in der Regel seine Sätze in einer Mischung aus Englisch, Japanisch
und Berlinerisch formuliert, auch richtig dechiffrieren zu können.
Ich komme gleich zur Sache. Wie alles anfing, will ich wissen.
»Eigentlich wollte ich Lokomotivführer werden.
Habe dann aber recht früh auf Förster umgesattelt. Im Wald,
da laufen eine ganze Menge Dinge ab. Kannst du dir gar nicht vorstellen.
Also in meinem Wald, da hat außer den Tieren und dem Jäger,
der mein Freund ist, niemand etwas zu suchen. Spaziergänger während
des Tages sind schon okay. Aber sobald es dunkel wird, sind nur noch
der Jäger und ich drin. So begab es sich eines Abends, dass ich
mitten im Gestrüpp auf ein junges Mädel stieß. Was machen?
Kann man ja nicht wie dem Wilddieb einfach das Licht ausblasen. Also
erst einmal fesseln und dann ab in die Hütte. Das war mein erstes
Erlebnis mit dem Seil.«
Und wo und wann dürfte das gewesen sein?
»Das war bei meiner Oma. Auf ihrer Geburtstagsfeier.
Das ganze Haus war voll. Meine Cousine hatte ich nach Gutsherren-Art
am Herd gefesselt, während ich sie waidmännisch untersuchte.
Ab und zu kam jemand in die Küche, um neuen Schnaps zu holen. Unser
Spiel schien aber niemanden groß zu stören. Da muss ich etwa
sieben Lenze gezählt haben.«
Also bereits seit frühester Kindheit pervers. »Natürlich
war mir zu der Zeit nicht klar, was da eigentlich lief. Mit einsetzender
Pubertät kamen mir dann Bedenken, wie das wohl enden würde.
Aber zum Glück ist ja alles noch einmal gut gegangen.«
In der Tat. Denn heute ist Osada Steve nicht mehr Förster, sondern
Seilprofi. Ein weiter Weg vom Berliner Wald in die Lustgrotten von Tokio?
»Ich bin dann irgendwann [vor gut 25 Jahren] mit 100 Dollar in
der Tasche nach Japan gekommen. Was Shibari betrifft, war ich zunächst
Konsument, dann Sammler, dann Fotograf, dann Lehrling beim Großmeister
Osada Eikichi.«
Konsument?
»In den ersten Jahren habe ich auf Kampfsport gemacht. Morgens
um 6:00 Uhr aus dem Bett, ins Aikido Dojo, zurück ins Bett, dann
wieder ins Dojo, danach SM-Videos eingepfiffen und einen runtergeholt,
erneut ins Dojo. Ungefähr in dieser Reihenfolge.«
Sammler? »Langsam entwickelt man da ein Gespür für gute
Sachen. Bei all dem Training blieb aber wenig Zeit zum Geldverdienen.
Also musste ich mir vieles vom Munde absparen. Meistens sind es Shibari-Kunstbände,
die heute hoch gehandelt werden. Prachtstück meiner Kollektion
ist ein Gemälde von Ito Seiyu (1882-1961), das heute wohl weit
über zehntausend Euro wert sein dürfte.«
Fotograf?
»Irgendwann war ich es satt, von der Hand in den Mund zu leben.
Also habe ich das Training heruntergeschraubt und mich mehr ums Business
gekümmert. Was gut ankam, waren meine Modefotos. Die meisten Modelle
hatten nichts dagegen, nach der Arbeit noch ein paar Bondage-Schüsse
zu machen. Da hatte ich fast täglich Gelegenheit, mit Seil zu hantieren.«
Lehrling?
»Eines Tages bekam ich den Auftrag, den ehrwürdigen Bondage-Großmeister
Osada Eikichi bei der Arbeit zu fotografieren. Irgendwie sind wir uns
näher gekommen, und ehe ich mich versah, fand ich mich als sein
Deshi wieder. Also so eine Art Hiwi, wie man es im Film oft sieht. Da
ist der große Meister, und dann ist da der depperte Lehrling.
Letzterer schrubbt jahrelang den Fußboden, bevor er den ersten
Knoten lernen darf. Wie es das Schicksal aber wollte, hatten mir das
stetige Videoschauen und meine Nach-der-Arbeit-Bondage mit Modepuppen
eine solide Grundlage geschaffen. Jedenfalls avancierte ich rasch zum
Lieblingsschüler. Auf seinem Sterbebett hat mir Osada Eikichi dann
seinen Namen vermacht.«
Vermacht im Sinne von Vermächtnis?
»Also wenn du stirbst, dann kommst du als Seilmeister in den Shibari-Himmel,
wo dir devote Japanerinnen jeden Wunsch von den Augen ablesen. Als guter
Nawashi hast du dir das auch verdient. Der Haken dabei ist, dass das
nur so lange läuft, wie du im Bewusstsein der Noch-nicht-Gestorbenen
weiterlebst. Meine Aufgabe ist es deshalb, meinem Meister und Lehrer
alle Ehre zu machen, seinen Namen sozusagen im Spiel zu halten. Das
ist natürlich eine gewisse Verantwortung.«
Und wie genau macht man seinem Meister Ehre?
»Nicht, indem ich in der stillen Kemenate bete. Ich muss raus,
den Leuten Shibari zeigen. Die Sache mehr oder weniger professionell
betreiben.«
Hört sich sehr nach Arbeit an.
»Ist das eine Suggestivfrage? So als ob mir Shibari plötzlich
keinen Spaß mehr mache?«
Au weia. Ganz cool bleiben. Osada Steve wird sich doch nicht erregen?
Womöglich die Nilpferdpeitsche von der Wand holen und mir Bestrafung
androhen? Wie man so hört, scheint Osada Steve es ja auch mit Männern
aufzunehmen. Aber dann ist das Interview wohl zu Ende. Und ich hätte
doch noch ein paar Fragen.
Ehh, nein. Was ich meine, ist: Wenn man so viel Geld für seine
Bondage-Künste bekommt, dann sollte es doch eigentlich besonders
viel Spaß machen. Oder nicht?
»Na, watten sonst! Meinste, der Tennisprofi flennten janzen Tach
über, watta fürn hartet Leben hat?«
Öhh, jetzt ist Dialekt angesagt. Gleich flippt er aus. Vielleicht
sollte ich vorsichtshalber meine Hose herunterlassen? »Naaan,
da Dennüsspüüfie hat guut zu lacha«, entfährt
es mir geistesgegenwärtig. Osada Steve blickt verdutzt. Man sieht
ihm an, dass er diese Mundart nicht alle Tage hört.
»Sag mal«, spricht er nachdenklich, »bist du eigentlich
Deutscher?«
Ein paar höfliche Floskeln später sind wir wieder
beim Thema. Wie das denn nun genau ist, das mit dem Deshi-Sein, will
ich endlich wissen. In die Fußstapfen eines legendären Meisters
zu treten ist doch wohl ein recht außergewöhnlicher Vorfall.
Besonders wenn man bedenkt, dass es nur eine Handvoll Großmeister
gibt.
»Eine Handvoll ist eigentlich zu viel gesagt. Meines Erachtens
gibt es nur zwei noch lebende Großmeister: Nureki Chimuo und Yukimura
Haruki. Ersterer ist Hängebondage-Experte, Letzterer ist König
der Newaza-Bodenbondage. Dann kommt erst einmal eine ganze Weile nichts.
Dann kommen Leute wie Randa Mai, Naka Akira, Miura Takumi, Masato Marais,
Kai-san und wie sie alle heißen. Alles in allem also zwei Großmeister
und etwa ein Dutzend Meister. In der Regel sind sich diese Profis aber
untereinander nicht grün.«
So dünn ist das gesät?
»Darüber hinaus gibt es schätzungsweise ein- bis zweitausend
Amateure mit jeweils jahrzehntelanger Erfahrung, also Seilspezialisten,
die ihr Handwerk privat betreiben, aber einen recht hohen Stand der
Technik aufweisen. Nicht zu vergessen die Legion dominanter Frauen,
die durch ihre Arbeit in SM-Clubs Gelegenheit haben, sich das Shibari
reinzuziehen. Und getragen wird alles von der ungeheuren Masse mehr
oder weniger passiver Konsumenten und Hobby-Seilmacker – und das
dürften wohl zigtausende von Japanern sein.«
Ohne solch eine solide Basis von Amateuren und Konsumenten könnten
die Profis wohl Leine ziehen?
»Das ist richtig. Hinzu kommt, die Konkurrenz ist recht stark.
Es genügt nicht, einfach Bondages zu basteln. Man muss sein Seil
auf eine Art führen, dass es beim Publikum ankommt. Und Geschäftssinn
muss man zeigen.«
Was für eine Mark ist denn da drin?
»Der ehrwürdige Osada Eikichi hat damals zur Hochblüte
der Striptheater jährlich gut eine Million Dollar verdient, so
dass mit dem Osada-Namen ein gewisser Wert verbunden ist. Auf eine Formel
gebracht, entspricht dieser Wert dem sechsfachen Jahreseinkommen eines
erfolgreichen Nawashi. Sechsfach deshalb, weil man etwa sechs Jahre
braucht, um sich in Japan in der Kinbaku-Welt einen Namen zu schaffen.
Hier wird niemand über Nacht berühmt. Das ist alles harte
Arbeit. Das sind sechs Jahre Hungertuch, ohne zu wissen, ob einem letztendlich
der Durchbruch gelingt. Das sind sechs Jahre ohne Einkommen. Kein Wunder,
dass bei solchen Konditionen nur alle Jubeljahre ein neuer Nawashi am
Horizont auftaucht.«
Dank des Osada-Namens ist Osada Steve also das Hungertuch erspart geblieben?
»Mit dem Osada-Namen stehst du über Nacht im Rampenlicht.«
Aus welchem Holz muss denn nun so ein Deshi geschnitzt sein, der ein
rechter Meister werden will?
»Bei ernsthafter Betreibung japanischer Kampfkunst geht es ähnlich
zu wie beim Militär, mit dem kleinen, aber signifikanten Unterschied,
dass man sich seinen Meister selbst aussuchen kann. Deshalb hat mir
das Regime beim Osada Sensei nichts ausgemacht. Was der Meister sagt,
ist Gesetz. Die Japaner, die da bei ihm rumgehangen haben, die konntest
du alle in der Pfeife rauchen. Die wollten alle nur mit den Mädels
eine Nummer schieben.«
Wenn also des Meisters Limousine schmutzig ist, dann heißt es
Wagen waschen?
»Dann ist es schon zu spät. Auf die Limousine darf erst gar
kein Staubkorn fallen.«
Und wenn der Meister sagt: »Spring aus dem Fenster!«?
»Dann hast du die Wahl, einen ehrenhaften Tod zu sterben oder
dich wie ein Weichei wegzuschleichen. Ein Fürst hat den legendären
Schwertkämpfer Miyamoto Musashi (1584-1645) einmal gefragt, was
er wohl damit meine, dass ein Samurai einen Körper aus Stein haben
müsse. Als Antwort hat der Meister seinen Musterschüler gerufen
und ihm befohlen, Harakiri (rituellen Selbstmord) zu begehen. Der Mann
hat nicht dumm gefragt, sondern sich ohne Zögern den Oberkörper
frei gemacht, um sich den Bauch aufzuschlitzen. Der Musashi, der ja
eigentlich nur zeigen wollte, was ein Körper aus Stein ist, hat
den Mann dann zwar von seinem Vorhaben abgebracht, aber so läuft
das hier eben.«
Du meine Güte.
»Also das mit der direkten Linie, da hat man ja oft den 14. Großmeister
So-und-so, der muss aber nicht immer blutsverwandt mit dem eigentlichen
Gründer sein. Oft sind es die besten Schüler, die den Namen
und damit auch den Laden des Begründers übernehmen. Nicht
selten gehen dabei auch recht hohe Summen über den Tisch. Gerüchten
zufolge hatte ja Konishiki, der erste ausländische Yokozuna, eine
Million Dollar hinblättern sollen, um eine Sumo-Beya-Konzession
zu übernehmen. Ähnliche Beträge dürften auch bei
gut laufenden Ikebana-Dynastien üblich sein.«
Eine ganze Stange Geld.
»Auf der anderen Seite gibt es wieder Schulen, denen es weniger
um den Kommerz geht als darum, z. B. bestimmte Iaido- oder Schwerttechniken
unverändert zu erhalten, genauso wie sie vor etwa 400 Jahren entwickelt
wurden. Solche »Schulen« bestehen oft nicht aus mehr als
einer Handvoll Leuten. Die nehmen auch gar keine Schüler auf. Das
bleibt alles sozusagen in der Familie. Das Gleiche dürfte bei den
noch verbleibenden Hojojutsu-Richtungen (Vorläufer des Shibari)
der Fall sein. Das sind alles Geheimtechniken, die streng gehütet
werden.«
Gibt es beim Shibari ebenfalls Geheimtechniken?
»Beim Shibari gibt es Sachen, die nicht unbedingt gelehrt werden.
Sachen, die nur unter bestimmten Umständen an bestimmte Personen
weitergereicht werden. Das ist umstandsbedingt und hat weniger mit gezielter
Geheimhaltung zu tun. Zum Beispiel der Osada Eikichi-Stil, der wird
von mir weder in der Öffentlichkeit gezeigt noch privat unterrichtet.«
Und warum?
»Der Deal war, dass ich den Osada Eikichi-Stil so lange ausübe,
bis ich ihn hundertprozentig beherrsche. Danach, so der Rat meines Meisters,
solle ich meinen eigenen Stil finden. Anderenfalls wäre ich ja
nichts anderes als eine Kopie meines Lehrers.«
Einmal angenommen, da will einer Shibari lernen. Was macht der da?
»Da gibt es zwei Alternativen. Japanisch lernen und versuchen,
an einen japanischen Meister heranzukommen. Oder einfach bei mir im
Studio SIX vorsprechen. Glücklicherweise lassen sich die technischen
Aspekte ja mit relativ wenig Reibungsverlusten rüberbringen. Das
Gute beim Shibari ist, dass es auf mehreren 100 Jahren Hojojutsu aufbaut,
also ein gewisses System dahinter steckt. Es eignet sich deshalb gut
für den Unterricht. Vom erzieherischen Wert einmal ganz abgesehen.«
Shibari, die ideale Leibesertüchtigung für das alternative
Paar?
»Der optimale Sport für zwei. Shibari kann insbesondere dem
gefesselten Partner einiges abverlangen. So eine Art Yoga im geschnürten
Zustand. Und was dabei im Kopf abläuft, kommt als Bonus noch hinzu.«
Shibari als metaphysisches Erlebnis?
»Shibari ist der Schlüssel zu Erlebniswelten, die sich auf
andere Weise kaum erfahren lassen. Vorausgesetzt natürlich, dass
die Fesselung nach allen Regeln der Kunst erfolgt. Im Vergleich zu anderen
SM-Varianten spielt der Zeitfaktor auch eine wesentliche Rolle. Immerhin
kann im Falle von Newaza-Shibaritechniken eine Session mehrere Stunden
andauern.«
Ist bei Osada Steve dieses Jahr nicht wieder Europa-Tournee angesagt?
»Ab Ende Juli bin ich mit Shibari-Workshops zur xplore06 in Berlin.
Danach bin ich verschiedenerorts für Shibari-Intensivkurse, Videodrehs,
Performances und Demos gebucht.«
Kontakt über steve@OsadaSteve.com
Von Dr. D. Vice
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